Geboren an einem eisigkalten Sonntag im Januar 1916, gestorben an einem regnerischen Sonntag im Mai 2008. Albert wurde bis ans Ende begleitet von lieben Familienmitgliedern (die ihm nicht verwandt waren).

Sommerweizen

Der Bauernhof, auf dem wir Pfingsten verbracht haben, war ihm Heim und Heimet. Meine Grosseltern hatten den Hof übernommen, weil Albert und sein Vater nach dem Tod der Bäuerin mit der Arbeit in Feld und Haus nicht mehr zurecht kamen.
Meine Mutter wird die kommenden Nächte erneut einen Lebenslauf schreiben, weil sie halt die Archivarin der Familie ist und auch Alberts „Trucke“ mit den alten Fotos und Dokumenten behütet. Sie hat schon manch‘ schönen Beitrag über Albert verfasst und wie ich sie kenne, wird sie – sobald sie von der Totenwache zurückkehrt – auch hier noch ein Bild ergänzen.

Es bleibt uns, Albert zu danken: Für seine Erzählungen, seine Rezitierfreude, sein glucksendes Lachen und die vielen guten Gespräche über frühere Zeiten mit meinem Grossvater, die wie kleine Filme in den Köpfen von drei Generationen Nachfahren erhalten bleiben.

1st und 3rd, female

Viele Generationen haben hier – auf dem Bauernhof, welchen meine Grosseltern lange gepachtet hatten – den Pfingstsonntag verbracht. Nicht jede Pfingsten. Manchmal war man auch verkracht, verreist oder einfach verzweifelt.

Gestern haben wir es wieder gewagt und geschafft. Neue Ehen, neue Kinder, neue Jahrgänge von Zwetschgen und Kirschkonfitüre, neu gewobene Teppiche aus hinterlassenen Grosmutterkleidern – viele flinke Hände und allenthalben soziales und haushälterisches Flair haben es möglich gemacht.

Danke allerseits!

3rds Freund aus Thailand erzählte gestern:

In Thailand kann eine Frau nicht ohne Mann leben. Wenn der Mann stirbt oder die Frau verlässt, ist es ihre Arbeit, neue Männer zu suchen. Einfach ist es, wenn sie nur einen braucht, weil dieser stets anwesend ist und sie und die Kinder durchbringen hilft. Das geht nicht immer. Zum Beispiel seine Mutter, die brauchte mehrere Männer. Der erste, gleich nach Vaters Tod als Dauergast Eingezogene ist abgehauen und zwar mit dem ganzen Hab und Gut. Die Mutter blieb mit ihrem jüngsten Kind allein auf der Strasse, sie hatten nur ein Bild und einen Reiskocher. Von da an hatte sie die Männer für drei Monate oder kürzer. Oft musste sie zu ihnen reisen, einmal sogar nach Dänemark. Er selber wurde bei Tanten und Bekannten untergebracht und war viel krank. Jedes Mal, wenn er wieder erbrechen musste – aber er konnte einfach nichts dagegen tun, es passierte gegen seinen Willen! – wurde er an den nächsten Ort geschubst. Kotzen geht einfach nicht in Thailand.

Dann endlich kam er wieder zu seiner Mutter, weil sie in die Schweiz geheiratet hatte.

Seine Thai-Familie nennt ihn Fussball. Lange herumgekickt und schlussendlich doch im Tor gelandet.

Ich frage die neue Witwe aus dem 8. Stock wie es ihr gehe? Ja, was denn nun das Härteste sei im neuen Alltag? Sie war Psychiatrieschwester und ist nach der Pensionierung eine geblieben, die sich alles sehr genau überlegt und von der man viel lernen kann im Treppenaus.

Ach, meint sie, die Schmerzen. Die Schmerzen seien schlimmer als vorher, als der liebe Charlie noch lebte und ab und zu die Hand auflegte oder sagte, das sei bald vorbei.

Und der Kummer der Pflegetochter mit den Männern. Sie könne da nichts helfen, nur wiederholen was der Charlie immer gesagt habe: Werde am Einfachen glücklich – mehr als dies‘ Vermächtnis habe sie nicht zu geben.

Den Ehering zu einem neuen Schmuck verarbeiten zu lassen, dafür fehlt ihr das Geld. Sie hat ihn nun mit Kunststoffleim auf einen flachen Stein geklebt, der neben vielen anderen Ketten von Charlie an ihrem Hals baumelt.

Es sei schon richtig, sei er nun gegangen. Zum Glück bei Eiseskälte, als man ihn bei offenem Fenster aufbahren konnte. Das war ein wahres Geschenk.

Unser Quartier kann manches nicht mehr bieten, was in meiner Kindheit noch selbstverständlich war: Deutschkenntnisse, Studienabschlüsse, Sauberkeit, Seifenkistenrennen, Kasperlitheater. Doch seit Gründerzeiten ungebrochen ist ein Talent, welches man eher in der Häuschensiedlung erwarten würde als im Block: das Handwerkeln. Ich glaube fast, wir gehören zu den letzten Winkeln Berns, wo Löcher eigenhändig zubetoniert werden, wo einfach einmal einer die Scheibe glast, wo an Bushaltestellen gestrickt und vor der Hochzeit die halbe Aussteuer gehäkelt wird.

Besonders auffällig ist die Handarbeit für die Solidaritätsbekundungen. Heute begegneten mir auf dem Bus zwei Mädchen, die kaum unter ihren viel zu grossen Baseballcaps hervorgucken konnten. Erst aus der Nähe erkannte ich, dass die schwazen Kopfbedeckungen mit knallrotem Schirm aus dem Warenpostenladen mit tibetischen Drachen und „Tibet“ bestickt waren.

Oder am Tag nach dem Unabhängigikeitstag… Ich konnte es nicht lassen, zum orangen Riesen des Quartiers ins Restaurant zu sitzen. Klein Kosovo hatte frei genommen jedem sah man an, weshalb: Frauen hatten rote Schleier mit schwarzen Adlern bestickt, kosovarische Kinder waren damit beschäftigt, das UCK-Wappen auf ein Etui, einen Rucksack, eine Jacke, ein Hosenbein zu malen. Der Renner jedoch waren die roten T-Shirts! Dass sie überhaupt in dieser Menge erworben werden konnte, liegt bestimmt an vorausschauender Einkaufpolitik kosovarischer C & A-Mitarbeiterinnen.

Manche der roten Liibli waren mit ausgefransten Filzstiftworten beschrieben, aber die Vornehmeren waren benäht. Am allerbesten hat mir mein echt debiler Nachbar gefallen, über dessen grossen Bauch sich ein riesiger schwarzer Filzadler spannte.

Auch traurige Anlässe lassen in unserem Quartier die Emsigen erwachen. Ich erinnere mich gut an den Märztag vor vier Jahren, als in Madrid die Züge und Menschen gesprengt wurden. Noch am gleichen Tag waren hier rot-gelben Solidaritätsschleifen an Kleidern und Kinderwagen aus Papier und Stoff zu sehen und Fahnen pro Zapatero und contra Aznar flatterten aus den Fenstern. Längst vergessene spanische Zierkissen, von Grossmüttern geschaffen, wurden aus dem Keller geholt, auf Sofas drappiert oder unter die Heckscheibe der Autos gelegt.

(Wir wissen ja, dass wir manche Artikel über unsere Quartiere zuerst überschlafen müssen, um sie zu verstehen. Aber immer öfter werden wir unsere widerspenstigen Gefühle auch Tags darauf nicht los.)

Überraschend ist die Erkenntnis, dass es in Hochhäusern weniger Konflikte gibt. Diese Bauten sind für viele ein Schreckgespenst. Sie gelten als Hochburgen der Anonymität. Genau dies verhindere Konflikte, sagt Professor Nett. (…) Je weniger tägliche Kontakte es gebe, je weniger die soziale Kontrolle ausgeprägt sei, desto weniger Reibungsflächen gebe es.

Warum haben wir das nicht längst gemerkt? Es erklärt so vieles!

Dass die Kassen in den Quartiervereinen von Bernwest im Vergleich zur übrigen Stadt immer gut gefüllt sind, hat nicht etwa mit dem Weitblick der Erstbewohner und der Effizienz der Freiwilligen zu tun, nein, es liegt auf der Hand: Die Schatullen sind in der Anonymität vergessen gegangen und haben keinen anderen Zweck mehr als Zinsen zu generieren.

Dass unsere quartiereigenen Kindergärten die Integration von 80% ausländischen Kindern weitaus besser schaffen, als andere Quartiere ihren viel kleineren Anteil, liegt nicht daran, dass sich die Kindergärtnerinnen und die Quartierarbeiter dafür ein Bein ausreissen, nein, es liegt an den höchst seltenen Kontakten und der eingeschränkten sozialen Kontrolle – erst so entsteht der nötige Freiraum für Selbstintegration.

… und das ist der letzte Rest vom Gastgeschenk des Weltmeister-Pâtissiers in unserer Sippe. (Auf die fertige Création können wir leider vor der Koch-Olympiade nächsten Oktober nicht eingehen, danke fürs Verständnis.)

Weltmeisterlich

Ein jeder Künstler erinnert sich, wann er die Lust an der Kunst gefunden hat, auch er. Der Elft-Geborene liebte den Aufbruch zu Neuem schon als Junge sehr. Obwohl die Eltern das verboten hatten, nahm er nachmittags sein Velo und fuhr mit Blick nach vorn weg vom Familienhorst.

Er wusste genau, wie lange er fahren musste, bis das Haus in seinem Rücken hinter den Hügeln verschwunden war und er sich umdrehen konnte, ohne gesehen zu werden.

Er fuhr zum Fussballtraining.

Ein Pfarrsohn erzählte, wie er als sechster, als Nachzügler zur Welt gekommen sei. Alles war schon weggegeben, Kleider und Stubenwagen mussten vom peinlich berührten Pfarrer bei Hunkelers – die mit neun Kindern wahrlich bedürftig waren – zurückgeholt werden.

Später dann fand der Junge das dicke Buch über „Das Geschlechtsleben der Menschen“ hinter der Kollektenkasse versteckt, an die sich weissgott niemand herantrauen sollte.

Und noch später lud der Pfarrer seinen sechsten Sohn ein, darüber zu sprechen.

Bei den Tannen machts der Wind. Hast du noch Fragen?

Nein, nein, es war alles klar.

Wir sind – wenn ich so sagen darf – bekennende Einfamilienhäuserhasser. Die Zerstückelung der Landschaft, die Pendlerei, die Agrarwirtschaft, die Welternährung und natürlich die notwendige Abgrenzung eines jeden Blockbewohners, der (noch) kein Eigenheim (gebaut) hat.

Aber so ganz hemmungslos können wir uns dem Hass nicht hingeben, zu viele nette Arbeitskolleginnen und -kollegen wohnen in einem „Eäffhaa“ oder stehen kurz vor dem Bezug eines solchen. Unsere Mittagsarbeitsgespräche kreisen um Gummidichtungen, Plättlifarben, Gärtnerlaunen, Handwerkerbetrug, kilometerlange Leitungen, fragwürdige Holzbeläge, dringende Doppelgaragen und billige Fensterfassungen aus dem Deutschen.

Und die Adressen in den putzigen Vororten ohne Jugendgewalt und Junkies heissen nach Bäumen, Blumen oder Singvögeln, merken Sie sich das. Leider wird weitergebaut, wenn die schon ausgegangen sind und dann steht unverhofft, nach all den Föhren, Birken, Ahörnern, Linden, Eichen und Eschen ein Thujaweg im zerklüfteten Lande, weil wo’s keine Bäume mehr gibt, die gute alte Hecke herhalten muss.

Und ich prophezeie hier und heute, dass bald auch den Singvögel die Luft wegbleibt und man sich ans Federvieh heranpirschen muss. Hühnermatte, Entenhubel, Gänseweg. Und die farbigen Blüten werden ebenso ausgehen, das sehe ich an der Überstrapazierung des schmucklosen Nelkenweges. Stechpalmen und Schleierkraut sind die Zukunft und danach muss es mit Gemüse weitergehen. Der benachbarte Bauer wird aus seiner Hochstammhoschtert ins Einfamilienhausadress-Consulting getrieben.

Schon wieder zwei Parzellen frei.

Irgendwann in einer ganz besonderen Gutmenschenstunde, beschlossen wir, unser gutes aber seit langem ungespieltes Klavier 3rds Gutmenschenschule zu spenden. Wir haben der Schule eine entsprechende Nachricht geschickt mit Name und Geburtsjahr vom Klavier sowie Name und Adresse von uns. Ich weiss nicht, ob es an der Adresse lag oder ob es die Spende war, jedenfalls schien mir nach den ersten Telefongesprächen, die Schule vermute ein Danaergeschenk. Wir beschlossen also, dass sie das Klavier anschauen und ausgibig testen sollten.

Der Musikfachschaftsverantwortliche, ein singend-sypmathischer Oberländer, kam noch vor Weihnachten in den Block, um das Instrument in Augenschein zu nehmen. Damit er sich auf unserer Baustelle nicht verlief, holte ihn 3rd vom Bus ab, obwohl er ihn nicht kannte. Das Handygespräch, in dem sich die beiden gegenseitig beschrieben, damit sie sich nicht verpassten, war eine äusserst ernsthafte Angelegenheit.

So kam der Fachschaftsverantwortliche gut im Block an und wunderte sich unauffällig, an diesem Ort ein Klavier zu finden. Ich versicherte, dass es mindestens noch ein zweites im gleichen Hauseingang geben würde, denn bis vor wenigen Tagen war daneben der ehemalige Klavierlehrer aufgebahrt und heute steht seine Asche drauf.

Unser Klavier war zwar leicht verstimmt, aber des Fachschaftsverantwortlichen Bachfugen hallten doch eindrücklich durchs Treppenhaus. Sein Urteil fiel positiv aus: Gute Qualität, stabil, gut erhalten – genau richtig für die Schule. Wir erhielten wenige Tage später eine CD und eine Weihnachtskarte, die uns erröten liess.

Und heute kam ein (!) Klavierbauer, um das Klavier abzuholen. Er stellte das Klavier mit meiner Hilfe in die Vertikale und montierte einen sogenannten „Schlitten“ daran.

Auszug aus der Wohnung in der Vertikale:
Klavierumzug1

Hindernisrutschen auf dem Schlitten:
Klavierumzug2

Warten auf den Anhänger:
Klavierumzug3

Verlad durch Kippen und Rollen:
Klavierumzug4

Auf Wiedersehen in der Schule!
Klavierumzug5

Die Spitzbuben lassen wir bei den Kränen

Guets Fescht 1

draussen. Die Meiländerli sind viereckig

Guets Fescht 2

dieses Jahr.

Guets Fescht 3

Den Kreis

Guets Fescht 4

und das Eck: mehr braucht es nicht.

Guets Fescht 5

Frohe Weihnachten!

Wir holen Grossvaters letzte Zwiebeln von der Büni

Grossvaters letzte Zweibeln

und verteilen sie in der Familie.

Grossvaters letzte Zwiebeln verteilen

Ein jeder nimmt, was er braucht.

Verbunden 6

Danke für die vielen Nachrichten in allen Formen und aus aller Welt.
Danke für die Besuche der Beerdigung – sie war genau richtig.

Lebenslauf Jakob.

Verbunden 5

Wir sollen ihn nicht stören, wenn er ruhig liege, meint Grossvater. Aber da sein – das sei schon gut.

Je dunkler, desto genauer weiss ich, was die im Block vis à vis so machen. Und umgekehrt wissen die vis à vis was ich so tu. Allerdings sehe ich denen durch die grossen Fensterfronten direkt in die Stuben und auf die Bildschirme, die jetzt Screens heissen und zu den Objekten gehören, die sicher die letzten zehn Jahre das grösste Wachstum erfahren haben. Doch auch die haushälterischen Aktivitäten lassen sich über den Balkon und die Fensterfront gut beobachten, und weil die auf den Winter hin zunehmen, lasse ich mich jeweils anstecken und mache mir zumindest stundenweise vor, ich hätte es im Griff.

Das Praktische dabei ist, dass ich bei achthundert Nachbarn immer ein Vorbild finde, welches gerade zu meiner momentanen Stimmung passt. Was allerdings nicht bedeutet, dass sich jeder als solches eignet. Nacktes Rauchen auf dem novemberlichen Balkon meide ich beispielsweise genauso wie das Abtauen der Kühltruhe ebenda. Auch exzessive Geranienpflege bis weit in den Herbst erschient mir nicht nachahmenswert, ganauso wenig wie das abwechselnde Aushängen von Vogelkäfigen im Viertelstundentakt.

Das Putzen des Taubendrecks, das Auschütteln der Teppiche und das Einwintern der mediterranen Balkonpflanzen – das ist hingegen sehr anregend.

Gestern hat das Quartier, in dem „blogk.ch“ steht, sein 40. Jubiläum gefeiert. Die öffentliche Meinung dazu ist, dass das Quartier damals eines mit Pinoiergeist war und heute eines mit Problemen ist. Vergessen geht oft, dass das, was im Rückblick zum Pioniergeist avanciert, in der Gegenwart eine Reaktion auf Probleme war. Wäre gut möglich, dass das, was wir hier und heute an Herausforderungen zu bewältigen suchen, in vierzig Jahren auch als Pioniergeist gilt. Auch wenn es nicht mehr Skirennen, Risottokochen und Geranienmärkte sind.

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Coop-Magaziner beim Jubel-Frühstück: Du musst wissen, wenn ein Chef dich fertig machen will, kann er. Egal ob Bosnien, Schweiz, egal ob gute Job oder schlechte, egal viel Gewerkschaf, wenig Gewerkschaft. Egal viel Korruption, wenig Korruption. Er kann einfach, bei ihm ist Macht.

Ich: Kann schon sein. Kommt deine Frau auch noch?

Coop-Magaziner: Nein, sie arbeitet. Ich gehe nachher mit Zwillinge bei ihr in Coop essen. Geld muss fliessen. Coop zahlt unsere Lohn, ich zahle damit Mittagessen bei Coop.

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Mädchen an einem Sinneswettbewerb. Mit verbundenen Augen diktiert es mir, was es nach Tasten, Riechen und Schmecken in den Gläsern vermutet:

Mädchen beim Paniermehl: Brot klein gemacht zu Sand.
beim Fencheltee: Tee für mein klein Bruder.
bei Muskatnuss: Nuss, die meine Mutter reibt.
bei Zimstängel: Vanillestängel für Weihnachten.
bei Grillspiess: Du fädelst Gemüse und Fleisch darauf.
bei Cellophansack-Verschlüssen: Metallteile zum Schliessen von Säcklein die sind wie ein Fenster.
bei Steckmasse für Blumengestecke: Hier steckt meine Mutter schöne Blumen rein und ich meine Finger.

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Ehemalige Bewohnerin: Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Ins Altersheim, bevor ich alt bin. Was hätte ich nur gemacht auf dieser Baustelle hier? Zwar, die Aussicht, die ist schon anders, lauter Bäume vor den Fenstern. Eigentlich soll man dagegen nichts sagen, aber der Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang, die fehlen mir schon. Allerdings soll man nicht klagen, dass es vergangen, sondern dankbar sein, dass es gewesen. Vierzig Jahre lang im zwölften Stock. Das war schon etwas Besonderes.

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Bewohnerin (hat vier Kinder alleine grossgezogen) leise zu mir:
Heute bekommt mein B. den Ehrerndoktor der Uni K. Ich meine, wer hätte das gedacht, als er sich einst selber töten wollte? Du weisst ja, die Pfadi, die hat damals sehr schlecht reagiert, als er sich geoutet hat, er war hier ja Jahre sehr sehr aktiv. Und was ist danach passiert, als B. bei ihnen aufgehört hat, was? Es ist nur noch abwärts gegangen mit der Pfadi und das freut mich bis heute. Das musste damals so sein, dass ich diesen zerrissenen Brief im Abfall gefunden habe, es ist alles genau richtig herausgekommen. Jetzt ist er Quantenphysiker und seit heute Dr. Dr. Zuerst wollte er ja nur noch für die Bewegung arbeiten, aber ich und alle Geschwister haben gesagt, das ist doch kein Beruf, das ist doch einfach eine sexulle Orientierung, das reicht doch nicht als Lebenshinhalt! Und dem 20 Minuten habe ich auch gerade geschrieben, als sie diese Liste mit den homosexuellen Kandidierenden gemacht haben, die hätten besser erklärt, wofür diese Leute stehen! Dass Diskriminierung nicht sein darf, das gilt für alle und jeden! Auch für mich. Ich sage jedem, der mich dumm auf meine schwulen Söhne anspricht: Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich, wer sie nicht respektiert, respektiert mich nicht. Die Haltung ist entscheidend und nicht die Orientierung.

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Ein Pöstler: Nach vierzig Jahren haben sie mir nun auf der Schanzenpost gekündigt. Ich arbeite jetzt auf der Sihlpost. Ich hätte mir das nicht gedacht, dass das geht, aber es geht. Es war nicht in Ordnung, dass sie es mir so spät gesagt haben, dass sie mich versetzen müssen. Ich war ja vorher noch nicht oft in Zürich, ich kannte das nicht. Aber sonst geht es.

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Unser Blogger-Besuch von neulich hatte Messedienst in Schanghai und schreibt:

Ich war dort als General Manager der deutschen Niederlassung von einem Shanghaier Stickmaschinen und -ersatzteilhersteller.

Meine Anwesenheit hatte überwiegend mit dem chinesischen Minderwertigkeitskomplex dem Westen gegenüber zu tun (siehe auch Minderwertigkeitskomplex, muslimischer). Ich muss meinem Geschäftspartner jeden Tag versichern, dass Shanghai ganz toll ist und dass „The Bund“ praechtiger ist als die Königsallee usw.

Vor diesem Hintergrund ist es natürlich grandios für ein chinesisches Unternehmen, eine rindsmilchtrinkende Grossnase am Messestand zu haben. Deshalb durfte ich den Messestand nur in Richtung Klo verlassen, was eine sehr dumme Entscheidung war, denn auf den anderen Ständen hätte ich ja was über die Konkurrenz erfahren können und ich muss ja etwas über die Konkurrenz wissen, wenn ich chinesische Stickmaschinen in die Türkei verkaufen soll, oder?

Ausserdem hat meine Anwesenheit am Stand die Kunden abgeschreckt: die einheimischen Kunden, weil Chinesen panische Angst vor Westlern haben (vor allem die vom Land, und von denen gab es auf der Messe eine ganze Menge; für die wären an unserem Stand die Ersatzteile interessant gewesen). Und die anderen Kunden (vor allem aus Sri Lanka, Indien und Pakistan), weil die Anwesenheit eines Weissen normalerweise „Joint Venture“ bedeutet = höhere Kosten.

Ich habe meine Abschreckungs-Theorie Kunden aus Südafrika geschildert und einer thailändischen Vertriebsleiterin – und die haben jeweils heftig genickt. Aber mein Geschaeftspartner ist beratungsresistent. Mir solls recht sein.

Am ersten Abend war ich an einem chinesischen Dinner eingeladen, inklusive chinesischer Show (Merengue, Bauchtanz, Peking-Oper, Verlosung, Schüler-Band, das Ganze moderiert von einem gemischten Doppel, wie eigentlich immer in China, denn der Mao-Spruch, dass die Frauen die Hälfte des Himmels tragen, gilt immer noch.). Der chinesische Bauchtanz war zum Totlachen – genau das Gegenteil von dem Bauchtanz, den sich meine Mutter zum Geburtstag gewünscht (und leider auch bekommen) hatte. Die sauerländischen Bauchtänzerinnen hatten zwar Bauch, aber keine Anmut; sie haben sich bewegt wie Roboter. Die chinesischen Bauchtaenzerinnen waren natürlich wunderschön, haben sich geschmeidig bewegt – hatten aber keinen Bauch. Wie gesagt, sehr amüsant.

Das Dinner fand in einem riesigen Restaurant mit 1.500 Sitzplaetzen statt. Ich war der einzige Weisse. So fühle ich mich in China am wohlsten.

Einer der berühmtesten deutschen China-Kenner lebt seit 1994 in Peking. Ich wette, dass der noch nie allein mit des Englischen nicht mächtigen Chinesen gewesen ist, sonst würde er nicht immer wieder so einen Stuss von sich geben wie z.B. „Der Chinese ist listig“. Hab ich mit eigenen Ohren gehört, wie er das gesagt hat. Und das war kein Gerhard-Poldt-Zitat, sondern sein Ernst.

So lange ich die Frage, was mir dieses Engagement in Sachen Stickmaschinen an Lebenserfahrung bringt, positiv beantworten kann, mache ich das weiter.

(…)

Ich habe gerade ueberhaupt keine Lust zu bloggen. Ich kann übrigens alle Blogs prima erreichen, auch Mad Minerva (und die wäre hier garantiert gesperrt, wenn die chinesische Regierung was von ihr wüsste). Nur das Schachblog von Susan Polgar ist geblockt, keine Ahnung warum.

(…)

Habe ich mich eigentlich schon darüber erstaunt gezeigt, dass hier die Wikipedia komplett gesperrt ist – und Youtube nicht?

Oh ja, ich habe sehr viel Heimweh nach Thailand. Aber ich muss dankbar sein, in der Schweiz zu bleiben. Was wäre ohne meine Mutter? Ihr muss ich danken, dass sie mich hierher gebracht hat, denn Bangkok ist sehr, sehr schmutzig. Viele Kinder werden genommen und müssen auf die Strasse gehen zum Betteln.

Meine Brüder arbeiten, meine Mutter hat sie in Thailand gelassen, aber ich kann noch nicht selber verdienen, ich muss zuerst sehr viel lernen. Ich war schon in sieben Schulen! Ich war viel krank in Thailand und wenn ich wieder neu krank war, haben sie mich gezügelt zu einer anderen Tante und Grossmutter, ich habe drei Mutter! Aber kein Vater, weil ich drei war als er starb. Mein neuer Vater ist nur mein Stiefvater, er hatte noch nie einen Sohn. Er muss üben wie es geht mit einem Sohn.

Aber als wir noch in Thailand waren hat meine Mutter immer gearbeitet – auch als kleines Mädchen, immer, das war einfach so! – aber sie hatte nicht genug Geld. Bei Tsunami hat Arbeit ihr Leben gerettet, sie musste nach Phuket, aber ein Chef hat gesagt, vorher muss sie noch diese Arbeit fertig machen und dann kam genau der Tsunami nach Phuket und sie war nicht da.

Geld musste meine Mutter viel von anderen nehmen. Mein neuer Vater bezahlt alles zurück, alles, alles, alles. Er ist 43 Jahre alt, meine Mutter 45 Jahre alt und ich sage ihr, dass sie jetzt nichts mehr nach Thailand bezahlen soll, denn diese geben uns nie etwas. Sie denken, alle in der Schweiz sind reich, sie wissen nicht, dass wir hier arbeiten. Jeden Tag lang, damit wir sparen können, für die Wohnung und die Krankheiten, um sie am Ende vom Monat zu bezahlen.

Meine Lehrerin sagt, wenn ich mich in Deutsch verbessern kann, werde ich vielleicht, vielleicht die Sekundarschule schaffen. Aber ich muss mich in Deutsch verbessern. Mein Schweizer Vater kann mir gut helfen bei Deutsch und wenn er etwas nicht kann, schaut er im Computer.

Ich habe mich viel gefragt, warum in der Schweiz die Katzen so gross sind und in Thailand nur so klein, dann habe ich gesehen, dass es hier Katzenfutter gibt. In Thaliand müssen die Katzen sehr clever sein und Vögel fangen und sie sind sehr, sehr dünn. Aber jetzt habe ich hier eine Katze und ich spiele jeden Tag viel mit ihr, damit sie alles üben kann, was die Katzen von Thailand können.

(mehr …)

(Es gibt sie, die freiwillige Rückkehr. Ich hatte die kleine Familie einmal erwähnt, in 10 Jahre Dayton, im ersten Abschnitt.)

Gestern haben wir noch zusammen das Wohnungsübergabeprotokoll geprüft, in wenigen Stunden fährt der Bus und nimmt meine Freundin mit. Schlimmstenfalls 24 Stunden wird es dauern bis zum Ziel. Die Kinder sind schon sieben Wochen vorher zu den Grosseltern, Onkel und Tanten, gleich zu Ferienbeginn. Der Grosse schreibt immer um Mitternacht ein SMS: „Mama, ich weine gerade.“ Er schreibt lieber Deutsch, das geht schneller. „Mama, sie reden hier anderes Kroatisch.“ „Mama, die Kinder sprechen von Geld. Sag Onkel, dass ich haben sollte.“ Die Kleine ist recht zufrieden mit den Katzen, dem Garten, dem autistischen Cousin.

Der Möbelwagen ist vor einer Woche gekommen, viel war es ja nicht. Die Betten für die Kinder, eine Spende der Kirche. Das Bett der Mutter – aus dem Heilsarmeebrockenhaus. Ein Tisch, drei Stühle. Ein paar Kleiderkisten, deutsche Bücher, zusammengewürfeltes Geschirr, Abschiedsgeschenke mit Schweizer Kreuzen.

Warum sie kurz vor der Einbürgerung der Kinder zurückgehen?

Schwester und Familie gehen auch zurück. Die Unterstützung würde wegfallen. Wie als Alleinerziehende die Nachtschichten, wie die Wochenenden im Beruf bewältigen? Mit zwei schulpflichtigen Kindern! Die Tagesstätte ist zu den Arbeitszeiten einer Pflegerin geschlossen.

Und diese Schule! Von Februar bis Juni wurden keine Aufgaben mehr korrigiert, keine Tests geschrieben. Worauf die letzten Noten gründeten, hat keiner verstanden. 80% Migrantenkinder bedeutet auch 80% Migranteneltern. Sie haben keine Ahnung, was zu tun ist, was gut und richtig wäre, sie haben ja keinen Vergleich, nur so ein Gefühl und niemals, niemals Zeit sich zu befassen. Und die Schweizer schicken ihre Kinder in Privatschulen, ja, manchmal gar die Kroaten, wenn sie Zahnarzt sind. Mit wem sollte man sich da zusammentun?

Die Landschulwochen waren schön, die Jugentreffs wunderbar, das Bad, die Eisbahn! Die Schlittschuhmiete billig! Aber diese Schule? Dann noch lieber Kroatien ohne Schlittschuhe. Still sitzen und büffeln.

Wir haben viel gelernt von euch Schweizern, über die Demokratie in der Gemeinde, über den Dienstweg „we jede so wett“ und die Zusammenarbeit im Fussballclub. Wir sind dankbar für diese Jahre in diesem Land in Frieden. Aber eure Schule, nein, die tauschen wir gerne. Nun lernen die Kinder halt das neue Kroatisch von nach dem Krieg und Physik und Chemie – sicher vieles, was man nicht zum Leben braucht, aber besser als gar nichts! Und wenn alles gut geht, spielt der Grosse bald bei Enka Osijek.

Möge Gott euch Schweizer beschützen, wir werden an euch denken. Und das Berndeutsch, ne-neei, das vergessen wir nie.

Wie so oft, wenn hier wenig steht, ist es weil wir es nicht erleben. Hätten wir nämlich nicht so viel zu tun mit dem Erleben, bliebe mehr Gelegenheit zum Schreiben.

Zum Beispiel News aus der Hauswarts-Familie:

Da wäre der Mann, der sich jeweils vor meiner Schwester verbeugt und ihr noch und noch die Hand küsst „gut Hauswartfrau, Hauswartfrau gut“ murmelt und sie bittet, ihr Mann möge ihn in Ruhe lassen.

Oder die ewige Unwetterei, die Wasser in die Treppenhäuser schickt. Manchmal mehr als ein Hauswart alleine bewältigen kann. Drum muss er dann die Hauswartfrau dazu- und von ihrer Diplomarbeit wegholen.

Oder der blockinterne Rufname von 3rd, female: „Hauswart-Bébé!“

Oder 2nd, male, der sich einfach einmal wie ein normaler anstatt wie ein „bewusster“ Konsument verhalten wollte und deswegen zum Opfer und sogar zum Täter der Globalisierung wurde. Das ging so:

Er bestellte in der Nacht beim Apple-Shop ein ledernes Etui für den iPod, das problemlos in jeden kleinsten Briefumschlag passt. Die Bestellung wurde irgendwo auf der Welt ausgeführt und in die DHL-Umlaufbahn gespeist. Nach etlichen verbrauchten Litern Benzin und vermutlich ein paar plattgefahrenen Seniorinnen landete das Ding morgens um 10:00 vor unserem Block. Komischerweise war niemand da, es wurde ein Zettel hinterlassen.

2nd, male, setzte sich mit der angegebenen Nummer in Verbindung und wurde nach Bonn durchgestellt, wo man ihm versicherte, der Berner Chauffeur würde ihn kontaktieren, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Einige Tage später klingelte also das Handy und der Chauffeur war dran um zu sagen, er stehe wieder vor der Blocktür und niemand mache auf. Er bestätigte erneut, dass man das Ding nicht in den Briefkasten werfen könne und 2nd, male, vereinbarte wieder einen neuen Termin mit ihm. Das klappte.

(Das kleine Schwarze auf dem Bild unten ist das Ding, um das es geht. Die Rechung kam separat, eine Bestätigung der Bestellauslösung ebenfalls apart.)

iPod Etui und Verpackung

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